Neulich waren nicht nur wir auf der Cannabis Normal!-Konferenz, sondern auch Frank Tempel. Frank Tempel, der linke Bundestagsabgeordnete. Frank Tempel, der Antragsteller erster Güte – er hat sich in allen Bereichen seines politischen Spektrums mit ganzer Kraft für die Hanffreigabe eingesetzt. Frank Tempel, der einen Tag nach diesem Interview den ersten Preis für den Hanf-Aktivisten des Jahres empfangen hat.
Und genau diesem Frank Tempel haben wir in gemütlicher Runde ein paar Fragen rund um das Thema Legalisierung im politischen Kontext gestellt.
Lorenz: Herr Tempel, die deutschen Cannabis-Konsumenten sind nach den letzten Bundestagswahlen völlig aus dem Häuschen. Positive und negative Erwartungen werden wild durcheinandergewürfelt und am Ende steht die große Frage immer noch im Raum: Wie wahrscheinlich ist nach dem 24.9. die Legalisierung?
Frank Tempel: Die Positionsverhandlungen sind maßgeblich. Ich kenne die Unionsverantwortlichen sehr gut. Alles, was jetzt nicht im Koalitionsvertrag steht, wird nur schwer durchsetzbar sein. Es ist jetzt wichtig, dass sich eine breite Öffentlichkeit für die Sache einsetzt – die Sache sollte im Fokus stehen und kein Randthema darstellen. Wie schafft man eine Basis? Am besten mit der Ermöglichung von Pilotprojekten, um der zweifelnden und abgeneigten Bevölkerung zu zeigen: Es kann funktionieren und die Bedenken sind unbegründet. In den Pilotprojekt-Städten Bremen, Münster, Düsseldorf oder Jena könnten soziologische und kriminologische Studien durchgeführt werden, um die nötigen Beweise zu sammeln. Das wäre der minimale Schritt: Denn wir wissen ja eigentlich, was bei solchen Modellprojekten herauskommt.
Der weitere Schritt ist das, was Grüne und FDP fordern – wir brauchen ein gutes Modell für die legale Abgabe von Cannabis. In der jetzigen Koalition kann ich mir auch gut vorstellen, dass diese Lösung sehr kommerziell aussehen könnte. Denn wenn man jetzt nicht jeden Aspekt sorgfältig bedenkt, sind am Ende die Legalisierungsbefürworter schuld an einer schlecht regulierten Umsetzung, die vielleicht einfach nur an einem zu hohen Kommerzialisierungsgrad scheitert.
Die Weichen werden jetzt gestellt: Geht es mit großen Schritten los, geht es mit kleinen Schritten los – oder verschieben wir das Thema wieder vier Jahre.
Lorenz: Das heißt, wenn wir jetzt im Koalitionsvertrag festlegen, dass Modellprojekte durchgeführt werden können, ist eine breite Legalisierung noch nicht in Sichtweite?
Frank Tempel: Das muss gar nicht unbedingt sein. Wenn der Bund jetzt festlegt, dass die Bundesländer Modellprojekte durchführen können, kann man in wirklich jedem Bundesland dafür sorgen, dass das einzelne Bundesland es selbst mit Modellprojekten probiert. Da kann eine große Stadt wie Berlin auf die Coffee-Shop-Lösung setzen, Flächenländer wie Thüringen (Anm. d. Red.: Frank Tempel hat seinen Wahlkreis in Thüringen) können dann Cannabis-Social-Clubs ausprobieren. Oder ein Land nimmt beides, oder ein Land sagt: Verkauf nicht, aber Anbau ja. Das wäre dann in jedem Bundesland unterschiedlich umsetzbar. Viele unterschiedliche Projekte würden eine gewisse Breite an Erfahrungswerten liefern.
Aber die gesetzlichen Voraussetzungen muss der Bund schaffen. Denn es geht ja schon los mit Besitz und Erwerb: Wie gehe ich mit Modellprojekten um, wenn der Konsument jedes Mal strafbar ist, wenn er was kauft. Was mach ich denn, wenn der Erwerb in Berlin erlaubt ist, ich für meinen Rücken dann was in Berlin kaufe, bin aber ein Thüringer – werde ich dann von der Bundespolizei auf dem Leipziger Hauptbahnhof festgenommen, weil ich mir acht Gramm gekauft habe und in Sachsen die geringe Menge bei sechs Gramm endet? Solche Absurditäten muss der Bund verhindern! (Anm. d. Red.: Frank Tempel bekam von seiner Hausärztin in Thüringen kein Cannabis für seinen Rücken verschrieben, obwohl er wegen Magenbluten kaum alternative Medikamente einnehmen darf.)
Lorenz: Im konkreten: Der Bund muss eine bestimmte Menge, die jemand mit sich führen darf, festlegen und die einzelnen Bundesländer können sich dann entscheiden, wie die konkreten Abgabestellen (Cannabis Social Clubs, Coffeeshops, …) aussehen?
Frank Tempel: Das ist richtig. Der Bund muss erstmal den Konsumenten entkriminalisieren, d.h. die geringe Menge muss ins Gesetz rein. Ist das nicht im Gesetz drin, ich bin ja Polizist, heißt das für mich immer noch: Besitz und Erwerb ist strafbar – das steht im Betäubungsmittelgesetz, BtMG. Denn rein theoretisch, wenn ich im Dienst bin, muss ich eine Strafanzeige schreiben. Das Einstellen wegen geringer Menge ist erst nachgelagerte Rechtssache. Ich muss auch beschlagnahmen, wenn ich was finde. Jetzt muss vereinheitlicht und auch genau gesagt werden, wie dann mit der geringen Menge umgegangen wird.
Modellprojekte sind prinzipiell auch jetzt schon möglich, allerdings nur für die medizinische Nutzung. Für den Freizeitgebrauch muss der Bund zeitnah die Weichen stellen. Konsumenten müssen straffrei sein, also keine Strafanzeigen und keine Beschlagnahmung. Nur dann machen die Modellprojekte wirklich Sinn. Die theoretischen Grundlagen muss der Bund VORHER legen. Um die eigentliche Umsetzung der Modellprojekte können sich die Länder erst nachher kümmern.
Lorenz: Kann der Bund auch die Art des Erwerbs festlegen?
Frank Tempel: Im BtMG kann tatsächlich festgelegt werden, dass z.B. nur der kontrollierte Verkauf erlaubt ist, das wären dann die Coffeeshops. Eigenanbau könnte so rein theoretisch verboten bleiben. Prinzipiell gilt der Grundsatz: Bundesrecht steht über Landesrecht. Je enger und konkreter das Bundesgesetz formuliert wäre, desto weniger Möglichkeiten hätten die Bundesländer. Finde ich persönlich unklug, weil sich dann nicht die Möglichkeit ergibt, herauszustellen, welche Lösungen aus gesundheitspolitischen, verbraucherschutzpolitischen oder jugendschutzpolitischen Gesichtspunkten am meisten Sinn machen.
Am Ende muss jedoch ein gemeinsamer Nenner stehen. Bei einer Exkursion nach Uruguay mit Kollegen aus der Union (CDU/CSU) habe ich erlebt, wie stark sich die Unionspolitiker für das Abgabemodell per Apotheken begeistern konnten. Mit dem Eigenanbau konnten sie sich jedoch gar nicht anfreunden. Also wenn der Kompromiss ist, nur den kommerziellen Weg anzubieten, wird das immer noch der bessere Weg sein, als wenn gar keine Regulierung stattfindet. Im Gegensatz zu Holland müssten die Sorten dann aber besser auf Wirkstoffgehalt, Herkunft usw. getestet werden. Es kann ja nicht sein, dass ich weiß, wo die Kuh gefressen hat, wenn ich Fleisch kaufe, aber beim Gras weiß ich nicht, wo es herkommt.
Die kommerzielle Lösung wäre ein Vorteil zum Schwarzmarkt, aber die Möglichkeiten wären lange nicht ausgeschöpft. Würde niemand Gewinne machen, weder legal noch illegal, hätte das eine immense präventive Wirkung (Anmerkung d. Red.: z.B. durch fehlende Werbung, weniger höher, schneller weiter,…). So könnte die Verbreitung in der Gesellschaft eingedämmt werden, was ja ein hohes, gesundheitspolitisches Ziel ist. Ich will ja auch die Verbreitung von Alkohol einschränken, ohne dass ich es verbiete. Bei einem Glas Wein sage ich nichts, aber die Masse zu reduzieren ist wichtig.
Lorenz: Thema Werbung: Alkohol wird in TV-Spots mit den positivsten Emotionen beworben. Der Zuschauer einer solchen Werbung sieht sich also, ohne dass er das proaktiv wollte, einem Kaufreiz ausgesetzt. Bei 80.000 Alkoholtoten in Deutschland – ist dieser Zustand noch tragbar und wie geht man in der Beziehung mit Cannabis um?
Frank Tempel: Es müssen die gleichen Maßstäbe gelten, egal ob es um Alkohol, Tabak oder Cannabis-Produkte geht. Die Cannabis-Legalisierung bietet uns eine Wahnsinnschance, zu beobachten, was passiert, wenn man eine illegale Substanz im Rahmen eines Modellprojektes reguliert und Konsumenten aus der Kriminalität herausholt. Wenn das nämlich gut geht und die Zahl der Konsumenten nicht explodiert und die schädigenden Wirkungen durch Regulierung des Produkts sogar zurückgehen, dann wird natürlich die Frage auftauchen: Dann muss das natürlich auch für andere Substanzen gelten.
Es ist immer absurd, wenn ich zu Diskussionen zur Cannabis-Legalisierung entgegengehalten bekomme: „Nach der Logik müsse man ja dann auch härtere Drogen wie Heroin legalisieren“. Doch gerade auch bei anderen opiathaltigen Medikamenten, die dem Heroin sehr ähnlich sind, hat man doch gesehen: Man kann die Auswirkungen auf Überlebensfähigkeit, Ausgrenzung oder Lebensqualität durch eine Regulierung deutlich zum Positiven wenden. Crystal Meth, in meiner Heimat leider weit verbreitet, gäbe es ohne die Verbotslogik gar nicht erst. Dann gäbe es heute noch Pervetin, was deutlich „harmloser“ als Crystal Meth ist. Das ist ein Paradebeispiel dafür, was passiert, wenn man eine Substanz einem Schwarzmarkt überlässt.
Lorenz: Wäre dann nicht die logische Konsequenz, alle Drogen zu regulieren und Konsumenten zumindest von der Strafverfolgung zu befreien?
Frank Tempel: Erstmal muss gelten: Im Umgang mit Konsumenten braucht es keine Strafverfolgung. Man sieht in Portugal sehr gut, dass es auch ohne geht. Der andere Punkt ist der: Brauche ich wirklich alle Substanzen auf dem legalen Markt? Vielmehr gibt es Effekte, die von der Bevölkerung nachgefragt werden. Diese Nachfrage muss bedient werden. Ich hatte da einen Fall in Sachsen, bei dem ein Unternehmer durch enormen Druck zu Crystal Meth gegriffen hat, um eine Deadline einzuhalten. Er bekam den Auftrag, aber der Droge war er ohne Beratungsassistenz oder Aufsicht ausgesetzt. So griff er immer wieder zu Crystal, um in den verschiedensten Situationen besser zu funktionieren. Letzten Endes ist das richtig schiefgegangen.
Zudem: Viele alleinerziehende Mütter in Sachsen nehmen Crystal Meth – in bestimmten Situationen hilft kein Kaffee mehr, kein Nikotin oder Cannabis. Da müssen dann andere Sachen her. Ist also die Frage, ob wir für die geforderten Effekte nicht etwas Legales im Angebot haben sollten. Aber verunreinigtes Crystal Meth oder minderwertiges Heroin ist nicht zielführend. Die Frage ist also, ob natürliche Substanzen Chemiecocktails wie Crystal Meth ersetzen könnten. Den kolumbianischen oder afghanischen Bauern würde es schließlich mehr helfen, für legale Vertriebspartner zu arbeiten. Der Krieg gegen die Drogen löst all diese Probleme nicht, legale Vertriebswege müssen her. Mafiöse Verbindungen könnten so trockengelegt werden, die Auswirkungen wären international sehr weitreichend.
Wie gesagt, für bestimmte Bedürfnisse der Bevölkerung muss es auf dem legalen Markt Angebote geben. Natürlich nur unter ganz strenger Aufsicht und Kontrolle der Substanzen. Denn Streckmittel, die die Sache gefährlicher machen, helfen niemandem. Aber ein Konzept für ein legales Angebot zur Befriedigung spezieller Bedürfnisse braucht noch sehr viel Zeit. Cannabis ist da viel weiter, hier stehen wir kurz vorm Ziel. Denn Hanf ist eine natürliche Pflanze, die bei uns wächst und im Vergleich schon sehr gut erforscht ist. Cannabis wird jetzt eine Vorreiterrolle für alles Weitere einnehmen, vor allem beim Sammeln von Erfahrungen im Umgang mit der Regulierung von illegalen Drogen.
Lorenz: Was wären für Sie persönlich Anreize, Cannabis legalisieren zu lassen?
Frank Tempel: Seit tausenden Jahren ist bekannt, gegen welche Leiden Cannabis helfen kann. Oft wird Cannabis auch als Allheilmittel in den Himmel gehoben, aber die einzelnen Anwendungsfälle müssen jetzt erstmal erforscht werden, um auch im Gespräch zwischen Arzt und Patient mehr Klarheit zu schaffen. Ich persönlich habe seit sechs Monaten starke Rückenschmerzen, bin jedoch laut meiner Ärztin nicht krank genug, um Cannabis zu bekommen. Ich will später zu einem Heilpraktiker gehen können, der sich mit dem Thema beschäftigt hat, und mich top beraten kann. Das mit dem Rauchen wird bei mir einfach nichts mehr, seit 40 Jahren bekomme ich schon gesagt: „Zieh doch mal auf Lunge“. Ich wünsche mir, dass es Menschen gibt, die mir für solche Probleme die Lösung sagen können. Eine geschulte Person soll mir sagen können und dürfen, was genau in welcher Konsumform in welcher Menge genommen werden muss – das mit dem Inhalieren bekomme ich nämlich nicht mehr hin. Ich wünsche mir, dass ich auch ohne den Weg zum Arzt und Streit mit der Krankenkasse an ein hilfreiches Medikament kommen kann. Gerade auch im „weicheren“ Bereich.
Lorenz: Was sagen Sie zum Modell in Uruguay?
Frank Tempel: Das Modell in Uruguay finde ich am schlauesten. Es ist ständig im Wandel, Änderungen werden je nach Beobachtungen und Erfahrungen getätigt. Die Ausgangsüberlegung war auch dort, dass man Drogenkriminalität bekämpfen wollte, im Knast sitzen aber nur die Konsumenten, während die Mafia immer reicher wird. Im ersten Schritt wollte man also die Konsumenten aus dem Gefängnis haben. Als zweiten Schritt hat man sich die Bekämpfung der Drogenkartelle vorgenommen. Was hat man gemacht? Man hat ihnen die Konsumenten weggenommen. Zuerst wurde dafür der Eigenanbau erlaubt, dann die Cannabis-Clubs. Von anfangs zwanzig Pflanzen für den Heimbedarf wurde in Absprache mit Konsumenten auf heute sechs Pflanzen runtergegangen.
Auch die Cannabis-Clubs haben sich angepasst: Dort sind nicht fünfhundert Mitglieder wie in Spanien erlaubt, sondern nur 45. Ich war in Montevideo, der Hauptstadt Uruguays – und es war überschaubar, was dort an Pflanzen in den Clubs rumsteht. Die Polizei kann dort auf einen Blick kontrollieren, ob alles im erlaubten Umfang stattfindet. Dann hat man aber irgendwann festgestellt, dass es viele Konsumenten gibt, die nur gelegentlich konsumieren wollen. Diese Menschen wollen nicht zum Unkraut zupfen in den Cannabis-Club gehen oder sich zu Hause ihre Pflanzen halten. Man brauchte also auch eine kommerzielle Lösung, in Uruguay setzt man dabei auf Apotheken.
Für jeden Konsumtypen sollte eine Lösung auf dem Markt bereitstehen. Nicht jeder braucht die hohen THC-Konzentrationen, mancher fragt aber schon danach und soll das Angebot auch bekommen. Nur so kann man einen unregulierten Schwarzmarkt ausbluten lassen. Bis jetzt ist Drogenhandel noch Hauptfinanzierungsgrundlage für die organisierte Kriminalität, dieser Zustand muss beendet werden.
Lorenz: Grenzwerte für THC – ja/nein?
Frank Tempel: Auch bei dem Punkt ist eine Reglementierung nicht zielführend. Beim Alkohol trinke ich ja auch nicht eine Flasche Wein, wenn ich sonst eine Flasche Bier getrunken hatte. Verschiedene Konzentrationen sollten schon allein für das Einsatzgebiet als Medikament bereitstehen. Ein MS-Patient hat mir neulich erzählt, dass er zwar auch niedrig konzentriertes Cannabis zu sich nehmen kann, auch dann hat er keine Symptome mehr, dafür aber nach fünf Jahren Lungenkrebs, weil er nur noch am Rauchen ist. Wichtig sind in dem Zusammenhang geschulte Fachverkäufer, wie sie z.B. in Apotheken jetzt schon zu finden sind. Auch der Gelegenheitskonsument, der sich nicht mit allen Sorten auskennt, muss sicher konsumieren können. Und wenn wir weiterdenken, muss auch ein Beratungsangebot für andere illegale Substanzen verfügbar sein, meinetwegen bei einem Arzt.